Spiegel oder Fernglas? – Warum wir uns nicht mehr zuhören
Zuhören – eine Kunst, die immer mehr in Vergessenheit gerät. Nicht nur im Alltag, nicht nur in der Politik, sondern auch dort, wo es eigentlich zur Tradition gehört: auf den Bühnen des Karnevals. Jeder bleibt in seiner eigenen Blase, fest davon überzeugt, dass die eigene Meinung die einzig wahre ist. Kritik wird nicht mehr als Anregung verstanden, sondern als persönlicher Angriff. Diskussionen werden zu hitzigen Schlagabtauschen, und wer sich traut, den Finger in die Wunde zu legen, riskiert nicht selten ein Echo aus Unverschämtheit, Empörung oder gar gezieltem Missverstehen.
Doch gerade jetzt, an den tollen Tagen, liegt es in unserer Verantwortung, dieses uralte Privileg des Karnevals nicht nur zu bewahren, sondern wieder zu beleben: Den Mächtigen einen Spiegel vorzuhalten, das zu sagen, was im Argen liegt – nicht aus Bosheit, nicht um zu spalten, sondern um in die Reflexion zu gehen. Und zwar gemeinsam.
Das Erbe des Narren: Kritik ohne Konsequenzen
Es ist eine Tradition, die Jahrhunderte überdauert hat: Schon am Hofe der Könige durfte der Narr aussprechen, was sonst niemand zu sagen wagte. Er war der Einzige, der dem Herrscher ungestraft die Wahrheit ins Gesicht schleudern konnte. Rollentausch war fester Bestandteil des Faschings: Die Küchenmagd wurde zur Prinzessin, der Knecht zum König – für einen Tag wurde die Welt auf den Kopf gestellt. Nicht um Chaos zu stiften, sondern um die Dinge aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Daher kommt vermutlich auch die 11 – also eins und eins – alle sind gleich, auf eine Ebene und niemand erhebt sich über den anderen.
Und heute? Heute leben wir in einer Demokratie, in der jeder reden kann. In der niemand fürchten muss, am Tag nach der Bütt als vermisst zu gelten. In Russland, China, einigen arabischen Staaten oder vielen anderen Ländern dieser Welt wäre das eine fast sichere Konsequenz. Hier schützt uns Artikel 5 des Grundgesetzes (Presse-/Narrenfreiheit) – und doch scheint die größte Bedrohung für der Narrenfreiheit nicht mehr die Staatsmacht oder die sogenannte Wortpolizei zu sein, sondern die Ignoranz.
„Wir Büttenredner gehen nicht kaputt, weil wir nichts mehr sagen dürfen – wir gehen kaputt wegen Lärm“
Jens „Dä Schofför“ Singer, aus Köln, auf dem Thüringer Abend am 04.02.2025 in Berlin
Wortbeiträge? Fehlanzeige. Mallepartys? Volles Haus.
In den letzten Jahren ist das gesprochene Wort auf vielen Bühnen leiser geworden – nicht, weil die Botschaften fehlen, sondern weil ihnen kaum noch Gehör geschenkt wird. Während in den Sälen der Lärmpegel steigt, wird die eigentliche Kunst des Karnevals – das gesprochene und gesungene Wort – zunehmend verdrängt.
Dabei ist auch der Karnevalsgesang nichts anderes als Gesellschaftskritik im Takt der Musik. Früher haben sich Liedermacher über Könige, Bischöfe und Generäle lustig gemacht – heute verkommt der Gesang in vielen Veranstaltungen zu belanglosen Malle-Hits ohne Inhalt. Es wird gefeiert, aber nicht mehr zugehört. Dabei liegt genau darin die eigentliche Stärke des Karnevals: Dem Volk eine Stimme geben, Dinge auszusprechen, die sich sonst niemand traut – und das mit Humor.
Karneval ist mehr als Klamauk
Allein in Thüringen finden zwischen dem 11.11. und Aschermittwoch rund 1.100 Karnevalsveranstaltungen statt. Etwa 230.000 Menschen erleben dort gesellschaftskritische Reden und Gesänge, die in anderen Ländern nicht möglich wären. Diese Worte verdienen es, gehört zu werden. Nicht, um Streit zu schüren, sondern um uns daran zu erinnern, dass wir alle in einem Boot sitzen. Karneval war nie dazu gedacht, Mauern zu errichten – sondern Brücken zu bauen.
Doch die Frage bleibt: Liegt es wirklich nur am Lärmpegel? Oder vielleicht daran, dass sich viele Menschen gar nicht mehr mit einem Spiegel konfrontiert sehen wollen? Fehler lassen sich viel leichter durch ein Fernglas betrachten – aus sicherer Entfernung, möglichst weit weg vom eigenen Ich.
Aber wenn dem so ist, dann bleibt mir als Präsident des Landesverbandes Thüringer Karnevalvereine nur eine Bitte: Macht wenigstens konsequent Gebrauch von diesem Fernglas. Geht an die Theke, geht raus zum Rauchen – oder, noch besser: Haltet einfach mal die Klappe und schaut mit uns gemeinsam in den Spiegel der Gesellschaft. Es könnte sich lohnen.
Wenn Karneval eines nie war, dann stumm. Doch genau das droht ihm, wenn wir nicht handeln. Es braucht keine Verbote, keine erhobenen Zeigefinger – sondern das Bewusstsein für das, was Karneval ausmacht: Worte, die etwas bedeuten. Und genau darum geht es in unserer Kooperation mit der Initiative „Ruhe im Saal!“.
Diese Zusammenarbeit ist ein klares Zeichen für den Erhalt des gesprochenen Wortes im Karneval. Wer auf der Bühne steht, tut dies nicht nur zum eigenen Vergnügen, sondern auch für das Publikum. Und was nützt die schärfste Pointe, wenn sie im Stimmengewirr untergeht? Reden, Zuhören, Lachen – das ist Karneval.
Mit der Initiative „Ruhe im Saal!“ setzen wir uns für mehr Achtsamkeit und Respekt während unserer Veranstaltungen ein. Diejenigen, die Zeit, Mühe und Kreativität in ihre Wortbeiträge stecken, sollen auch die Möglichkeit haben, gehört zu werden. Der LTK stellt allen Mitgliedsvereinen das offizielle Logo der Initiative zur Verfügung – als sichtbares Zeichen dafür, dass hier das gesprochene Wort zählt.
Denn wenn Karneval eines nie war, dann stumm. Sorgen wir gemeinsam dafür, dass es auch so bleibt – und geben wir den Worten wieder den Raum, den sie verdienen. Es liegt an uns allen, dass er nicht verstummt.